21./22.04.2023 – Im Blindflug durch die Nacht

Ich hatte mich selten dermaßen vorbildlich auf eine Beobachtungsnacht vorbereitet wie auf diese. Großes Programm zusammengestellt, den Atlas präpariert, zu jedem vielversprechenden Objekt einen DSS-Auszug vorbereitet, Übersichtskarte („Fahrplan“) gebastelt, alles idiotensicher beschriftet, neuen Skizzenblock gekauft. Die Vorfreude war unbeschreiblich groß, denn das Wetter sollte von Freitag auf Samstag richtig gut werden. Das Auto wurde gepackt und gegen 20:45 Uhr brach ich von zuhause auf. Das war ziemlich früh, aber ich war furchtbar ungeduldig und wollte a) unbedingt den Spiegel möglichst schnell aus dem warmen Kofferraum rausholen und b) die ultraschmale Mondsichel mit der hellen Venus bewundern. Was für eine schöne Kombi am bunt gefärbten Dämmerungshimmel. Mild war es auch, als ich kurz nach Neune an meinem Erdsilo-Standort (der seit den jüngsten Ereignissen bei mir „Schießplatz“ heißt) einflog – 13°C. Ursprünglich waren meine Pläne, bei diesen Rahmenbedingungen zu meinem alten Standort bei Sankt Andreasberg zu fahren, dies ließ mein maroder körperlicher Zustand allerdings nicht zu und ich nahm Abstand von insg. 3h An- und Abreise.


Die Plätze von Auto und Dobson tauschte ich diesmal – Berlingo parkte östlich vom Teleskop. Falls der Hochstand in dieser Richtung wieder besetzt sein sollte, würde ein umherfliegendes Projektil zuerst aufs Auto treffen und nicht auf mich. Was bin ich doch für ein Fuchs! Zum Glück war kein Traktor o.ä. zugange; während der Anfahrt waren auf anderen Äckern mehrere große Maschinen zu bewundern, was mich beunruhigte, aber am Beobachtungsplatz war nix los. Ansonsten: Glasklarer Himmel in allen Richtungen, überraschend viel Wind (abflauend), mild, trocken. Mondsichel und Venus wunderschön. Fledermäuse überall, Feldlerchen piepen und verstummen irgendwann, dafür bellen die Füchse wieder rum.

Nachdem ich mich häuslich eingerichtet hatte, gab es noch viel Zeit zu überbrücken. Ich saß einfach nur im Auto rum, sah zu, wie es immer dunkler wurde und freute mich auf mein sorgfältig zusammengestelltes Programm. Die ersten Sterne am Himmel verhießen seeingtechnisch nichts Gutes; alles blinkte und flackerte. Mars in den Zwillingen entfremdete das sonst so vertraute Sternbild komplett, und er war längst nicht mehr so hell wie zur Opposition. Der Mond wurde immer roter und dunkler, je näher er dem Horizont kam; außerdem kam das blasse aschgraue Mondlicht hinzu. Die Temperatur fiel; ich kleidete mich entsprechend und hüllte meine Füße gleich in die Polarschuhe. Frieren wäre tödlich gewesen. Ich hatte schließlich richtig was vor. Es bellte und bellte und bellte; eine Gruppe Füchse in Nordrichtung war irgendwie gerade komplett am Durchdrehen.

Ich dachte darüber nach, so langsam mal den Atlas aufzuschlagen und zu gucken, welches Objekt denn zuerst angesteuert werden sollte… und merkte, an diesem Plan ist irgendwas faul… Der Atlas… Der Atlas? Irgendwas stimmt doch hier nicht?! Wo ist der Atlas, wo habe ich ihn hingelegt? Mein suchender Blick flog durch den Berlingo. Und dann fiel es mir ein. Scheiße. Der Atlas. Der liegt zuhause. Im Arbeitsrucksack. In der Küche unterm Stuhl. Genau dort, da liegt der Atlas. Der Atlas! Den brauche ich. Der ist wichtig. Der ist ganz wichtig. Ohne den geht hier gar nix. Da sind alle Objekte drin. Ohne Atlas kann ich wieder einpacken. Scheiße. Der Fluch, den ich aus einem jähen Impuls heraus loswerden musste, scheuchte wahrscheinlich alle Füchse, Jäger und potentielle Axtmörder in einer Umgebung von 3km auf. So eine akribische Vorbereitung – und dann vergesse ich das – mit Abstand! – Allerwichtigste zuhause. Wie kann man nur so blöd sein. Wie KANN – man – nur – so – blöd – sein. Den ersten Gedanken, alles stehen zu lassen, heimzufahren und das Ding zu holen, verwarf ich sofort wieder; den zweiten Gedanken, jemanden loszuschicken und ihn mir zu bringen, ebenso. In beiden Fällen hätte man was Wertvolles an Ort und Stelle zurücklassen müssen und das ginge natürlich gar nicht. Was nun? Ich sah mich gedanklich schon die ganze Nacht über irgendwelche Messiers abpinseln, für die man keine Karte benötigt (wobei noch nicht mal das gegangen wäre: Die begonnene Zeichnung von M 51 lag auch im Atlas).


Aber genau so fing ich dann auch an. Ich hatte vor zwei Wochen schon genauso wenig Lust darauf gehabt wie diesmal, allerdings stand mir da noch der ganze Himmel zur Verfügung… Mangels Alternativen stattete ich erneut M 53 einen Besuch ab und begann, das große Sternfeld abzupinseln, inkl. der beiden Kugelsternhaufen. Der Nachbar NGC 5053 war anfangs schwer zu sehen, setzte sich irgendwann dann aber doch schüchtern vom Hintergrund ab. M 53 zeigt mehrere markante Einzelsterne; der hellste am Ostrand ist besonders auffällig und stellt eine richtige Orientierungsmarke dar. Bei der Zeichnung schraubte ich die Vergrößerung nicht bis in die Unendlichkeit; M 53 gäbe natürlich noch sehr viel mehr her, aber es ging mir in erster Linie um den Gesamteindruck des ungleichen Duos.

Der Himmel kam mir noch nicht so besonders gut vor. Gegen 22:45 Uhr machte ich eine kurze, ärgerliche Kaffeepause und ging in mich. Mann, war das frustrierend. Das kann doch jetzt nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Die ganze Nacht nur Messier-Zeichnen. Es ratterte im Hirn. Die rettende Idee kam, als ich meinen Einkaufskorb erblickte, wo immer das ganze Zubehör (u.a. der Atlas… normalerweise) transportiert wird. In der Seitentasche war ein Stapel Karten meines alten Taki’s 8,5mag-StarAtlas drin. Schon tausendmal nass geworden, tausendmal geknickt und geknüllt; die hatte ich seit knapp 10 Jahren nicht mehr benutzt, aber nie aussortiert. Man könnte die Blätter ja mal als Schmierpapier benötigen, falls man sein Notizbuch vergessen sollte, oder so. Die Zielregion in CVn/Com, auf die ich mich konzentrieren wollte, war zufälligerweise dabei, na immerhin… Vor lauter Erosion waren die Karten kaum noch lesbar, aber in Kombination mit den DSS-Ausdrucken könnte vielleicht was gehen.


Mit viel Herumgerate, Geduld und Rühren kam ich tatsächlich zu meinem ersten Ziel: NGC 4509. Kaum zu glauben. Nordwestlich von einem netten, engen Doppelstern tauchte ein kleines Knäuel auf. Aufm DSS mit klumpigem Inneren, von dem allerdings nicht wirklich viel zu erkennen war. Nur für Sekundenbruchteile blinzelte irgendwas Stellares auf, das ich aber weder exakt verorten, noch halten konnte. Zu meiner Überraschung setzte sich auch die schwache Nachbargalaxie PGC 41645 ganz hauchzart vom Hintergrund ab.

Okay, das war doch schon mal ein Anfang. Statt Fullspeed-Vollgas ein Objekt nach dem anderen abzuschießen war jetzt eben Gemach gefragt. Normalerweise fühle ich mich immer etwas unwohl, wenn ich mit weniger als 30 Zeichnungen pro Nacht wieder nach Hause fahre, aber gut, so war es nun mal. Ich brütete über der erodierten Karte. Hieroglyphen lesen. Suche nach NGC 4214. Das DSS-Bild sah so vielversprechend aus! Grob im Teleskop angepeilt, zack, sofort drin. Ein großes, helles Oval in der Übersicht. Bei 138x wirkte der Nebel sehr unruhig, irregulär im Inneren. Einige Vordergrundsterne in der Umgebung. Bei 200x wurden diese Details fassbarer. Die Galaxie sah aus wie ein Tropfen, und an dessen südlicher Spitze setzte sich eine Art Auswurf ab. Im zerplatzt wirkenden Zentrum zwei körnige Helligkeitspeaks. Obwohl das Seeing so mies war, versuchte ich es noch mit dem 4,7er-Oku. Alle Details, die ich im 9er relativ schwer herausgearbeitet hatte, lagen nun wie auf dem Präsentierteller da – damit hatte ich nicht gerechnet. Schönes Objekt! Kann man sich lange mit beschäftigen.

Es ging immer wieder mal ein bisschen mehr Wind, der kurz das Teleskop erzittern ließ, allerdings blieb es nur bei sporadischen Böen. Ansonsten war es sehr angenehm. Die Venus war noch lange am Westhorizont zu sehen. Die Suche nach NGC 5033 dauerte etwas länger, lohnte sich aber. Schon in der Übersicht zeigt sich ein heller Nebel, der etwas schwächer war als die benachbarte Galaxie NGC 5005. Bei 138x sah sie anders aus, als ich es vom DSS erwartet hatte: Definitiv nicht oval oder elliptisch, sondern überraschend langgestreckt. Erst nach längerer Beobachtung fügte sich etwas Halo hinzu, sodass der Hauptkörper geringfügig bauchiger wirkte, aber definitiv nicht so wie auf dem Bild. Entlang der Westkante wirkte die Galaxie abgeschnitten und irgendwas Stellares blitzte im Westen hinaus. Überraschender Anblick!

Das schwierigste Objekt in dieser Nacht sollte NGC 4395 werden, die sich schon beim Aufsuchen erstmal hartnäckig vor mir versteckte. Nach Blick auf den DSS-Auszug wurde mir auch klar, warum: Das Ding ist groß und flächenschwach. Ach du Scheiße. Eigentlich nichts für meinen 6,0mag-Landhimmel, sondern für die richtig dunklen Plätze, aber da meine Objektauswahl in dieser Nacht stark eingeschränkt war, ließ ich mich drauf ein. Nur nach Ortskenntnis wusste ich, wo ich suchen sollte. Zwischen zwei Feldsternen setzte sich dann unmissverständlich ein blasser Nebelteppich ab. Deutlicher bei 138x. Undefinierbar fleckig, „patchy“, definitiv keine homogene Fläche. Aber bei den Bedingungen nicht wirklich einfach, das festzuhalten. Schon 200x war zu viel und die Galaxie verschwand im Hintergrund. Die gibt sicherlich noch wesentlich mehr her und an einem dunkleren Standort sehe ich mir die Sache nochmal genauer an.

Mitternacht war durch. Kaffee zum Aufwärmen, den ich teilweise verkleckerte. Ich opferte meine Dunkeladaption, um Fotos zu machen und kurz nach Objektkoordinaten zu suchen, die nicht in meiner Superkarte ersichtlich sind. Ansonsten war der Himmel jetzt gar nicht sooo schlecht, solange man nicht in Richtung Bernburg guckt, welches das meiste Licht nach oben schmeißt. Naja, Bernburg halt, was will man erwarten. Im Nordosten stiegen Vega und Deneb kontinuierlich auf, aber die Sommermilchstraße war nicht mal ansatzweise zu erahnen. Perseus und Kassiopeia schrammten oberhalb vom Nordhorizont entlang. Ich musste grinsen; meine Tochter fragte mich vor meiner Abfahrt, ob der Algol traurig sei? Ich versprach, das zu überprüfen, und kann nun Entwarnung geben: Der Algol machte einen munteren Eindruck und schien alles andere als traurig.

Mit meinen recherchierten Koordinaten ging erstmal gründlich was daneben. Ich verortete mein Ziel nördlich von M 3, weswegen ich den Kugelsternhaufen im Okular einstellte (Zitat aus dem Buch: „Fett!“) und dann ewig herumrührte, ohne aber das Feld vom DSS irgendwo wiederzuerkennen. Nochmal nachprüfen… Südlich von M 3, ah! Eigentlich gar nicht so schwer. Die Gegend rings um IC 914 war dann eingestellt und es setzten sich nur spärlich ein paar schwache Tupfen ab. Es gehörten mehrere Galaxien zu dem Grüppchen, von denen aber nicht alle sichtbar waren. Sehr blass, alle rund, keine Details. Eine ziemliche Enttäuschung, weil der Gruppencharakter keine Wirkung hatte. In Anbetracht der Umstände machte ich aber doch noch eine Skizze von der Angelegenheit.

Es war 00:45 Uhr und mein körperlicher Zustand baute allmählich immer weiter ab. Im Kopf drückte es schon den ganzen Abend, aber die permanente Konzentration verschlimmerte die Schmerzen im Laufe der Stunden. Der Fiskars-Spaten, den ich mir für eventuelle Nahkampfeinsätze mitgenommen hatte (man weiß ja nie), lehnte träge gegen die Karosserie und reflektierte das winzige Fernlicht irgendeinen Autos bei Bernburg. Eine fette Sternschnuppe rauschte südlich vom Herkules über den Himmel; ich wünschte mir was – vielleicht gehts ja in Erfüllung – und blätterte dann wieder in meinem chaotischen Papierstapel herum, auf der Suche nach irgendwelchen Ansatzpunkten für das nächste Objekt.


In NGC 4278 fand ich nochmal ein nettes Ziel, das meine müden Sinnesorgane nicht überforderte. Bei 138x präsentierte sich die Galaxie als ein flächenheller, runder, auffälliger Ball, gänzlich ohne Details. Östlich daneben NGC 4283, ähnlicher Gestalt, aber schwächer und nicht so kompakt. In weniger Entfernung stieß nördlich NGC 4274 hinzu, die noch heller war als 4278 und sich als ein elliptischer Nebel zeigte. Details sah ich nicht, habe aber auch nicht darauf geachtet – die hätte ja eine hübsche Ringstruktur zu bieten, die mir aber vermutlich sowieso verborgen bleiben würde. Während meiner Zeichnung schälte sich mit NGC 4286 eine vierte Galaxie heraus, die 4278 und 4283 zu einer netten Galaxienkette ergänzte. Richtig schönes Quartett!

Es sollte nicht mehr lange dauern, da sehe ich grüne Männchen durchs Bild huschen. Die Kopfspannungen nahmen zu, die Augen taten weh, die konzentrierte Beobachtung strengte immer mehr an. Ich näherte mich bedrohlich der Uhrzeit, an der ich normalerweise frühs aufstehe. 22 Stunden auf den Beinen, das steckt man auch nicht mehr so leicht weg wie noch mit Anfang 20. Die Wahrheit ist leider hart.


NGC 4448 sollte das letzte neue Objekt werden. Ich wusste noch, dass sie irgendwo in der Nähe von Gamma Com rumhängt, was das Aufsuchen leicht gestaltete. Easy! Hell und oval. Bei 138x eine auffällige Ellipse mit hellem Zentralbereich, aber ohne Kern oder andere interessante Merkmale. Insgesamt nicht besonders spektakulär. Warum habe ich mir die rausgeschrieben, was wollte ich denn bei der?

Ofen aus! Mir schwirrte der Kopf. Was für eine Scheiße. Mit meiner CVn-Zettelei war ich nun am Ende angekommen und ohne Atlas war ich aufgeschmissen. So ein schöner Himmel inzwischen. Mit zwei Standardobjekten ließ ich es ausklingen. Zum einen M 57, den ich ohne Karte gerade noch so fand: Sehr grün, wunderschön, aber ohne Zentralstern bei 380x – dort spannte sich nur die pure Dunkelheit auf. Schlussobjekt war Rasalgethi, mein Lieblingsdoppelstern mit dem tollen Farbkontrasteffekt. Der kleine Begleiter wirkt türkis-grün. Richtig cool. Das Doppel war toll voneinander getrennt, aber schon bei niedriger Vergrößerung war zu sehen, wie schlecht das Seeing war. Die Milchstraße im Osten hob sich nun allmählich aus dem widrigen Gemisch aus Lichtverschmutzung und Dunst ab – schöner Gruß an den Sommer, ich freue mich schon.


Während ich alles einpackte, durfte das Smartphone noch ein paar letzte Fotos schießen. Irgendwie hatte ich den richtigen Fokus gefunden (purer Zufall!) und freute mich über scharfe Sterne. Wahnsinn. Vielleicht sollte ich doch noch auf Fotografie umsatteln, die Ergebnisse auf dem Display ließen jedenfalls eine große Karriere erahnen. Nachdem ich meine Haribo-Fressalien vernichtet hatte und noch für ein paar letzte Minuten musikhörend im Auto saß, machte ich mich kurz nach Zweie wieder aus dem Staub. Die Entscheidung, nicht in die Berge gefahren zu sein, war goldrichtig, wie mir die viertelstündige Rückfahrt gnadenlos zeigte. Schwer erträgliche Kopfschmerzen gepaart mit Müdigkeit sind nicht die besten Begleiter am Steuer, und ich war froh, als ich heile wieder zuhause ankam.


Trotz der blöden Umstände war ich aber ganz zufrieden mit der Ausbeute… War schon mal schlechter.

Share by: