30.04./01.05.2014 - Wadentraining für M 57, oder: Die Sportnacht

Eigentlich hatten wir für diesen Abend unseren Einsatz auf dem Roque de los Muchachos geplant und waren entsprechend tagsüber hochgradig faul. Leider machte uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung, da sich den ganzen Tag über komische Wolken am Himmel hielten, hartnäckig und konstant. Wie verhält sich das Zeug? Selbst unsere laienhaften Übersetzungsversuche des Teletextes des spanischen Senders TV Canaria brachte keine Antwort auf diese Frage, und Internetempfang hatten wir nicht. Das war mir zu nebulös. Der Roque war gestrichen, und um wenigstens ein bisschen Bewegung zu haben, spazierten wir zum Kiosk in Llano Negro, und auf dem Rückweg wandelten wir durch das warmgoldene Abendlicht. Während ich mich später in weiser Voraussicht aufs Ohr haute, setzte Norman alles auf eine Karte und nutzte, von der Dämmerung an, die gesamte Beobachtungszeit, und wurde dafür belohnt.

Mein Part in dieser Session begann erst in der zweiten Nachthälfte. Die Wolken während der Dämmerung krochen so elend langsam dahin, und ich hatte keine Lust mehr auf irgendwelche langweiligen Galaxien, sodass ich mich bis Mitternacht hingelegt hatte, nach dem Aufstehen Kaffee trank, etwas aß und dann erst ab 01:00 Uhr zu Norman stieß. Es war noch immer irgendein „Wolkengeschmadder“ am Himmel unterwegs und der Wind ungewohnt kräftig, selbst auf der Terrasse unten. Auf der oberen Wiese hätte das Teleskop nicht sicher stehen können. Trotzdem waren die Temperaturen erstaunlich mild. Das Seeing war ähnlich passabel wie am Vortag, und sowohl Transparenz, als auch Dunkelheit (SQM: 21,6) ebenfalls ganz ordentlich.


Ich war gerade rechtzeitig, um einen glückseligen Norman zu erleben, dem eine lang erkämpfte Sichtung gelungen war: Die Tadpole. Das war natürlich das ideale Einstiegsobjekt für jemanden, der eben erst aufgestanden und aus dem Hellen gekommen war. Entsprechend lang dauerte es, bis die Photonen dieser Galaxie auf meiner Netzhaut ankamen. Irgendwo zwischen zwei hellen Feldsternen erschien ein schwacher, länglicher Nebel. Nach längerem Einsehen recht einfach zu halten.


Wegen des Windes drang das ungewohnt starke Rauschen der wogenden Kiefern zu uns; es klang wie ferne vorbeifahrende Autos. Norman freute sich noch lange, „nach all der Zeit gefunden!“, und die dünnen Wolkenfetzen schlichen quälend langsam umher.


Unser nächster Besuch ging auf NGC 5907, weil dort, im Drachen, der Himmel frei und transparent war. Ein imposanter, großer Lichtdolch! Mehr war dazu nicht zu sagen und wir widmeten unsere Aufmerksamkeit eher der benachbarten M 102, weil wir uns am Staubband versuchen wollten. Meinerseits absolut komplett Fehlanzeige, doch Norman war sich nicht so ganz schlüssig. (Norman: Blickweise erschien das Staubband extrem klar, fein und zentriert, leider war dies nur EIN verschwindend kurzer Augenblick, der nicht reproduzierbar war und somit sehr fragwürdig - Seltsam.)


Er ging zunächst hinein, um sich die Zähne zu putzen, und lag dann auf der steinernen Bank neben dem steinernen Terrassentisch. Überall hing immer ein wolkiger Fetzen rum, und ich blätterte unschlüssig im Atlas umher, auf der Suche nach einem potentiellen galaktischen Opfer in einer möglichst klaren Region. Im Sternbild Schlange befindet sich Arp 91, die ich aus lauter Verlegenheit einfach mal so ansteuerte. Auf blassen Dunst, besser als gar nix… Uiuiui, was haben wir denn daaa? Arp 91, die aus NGC 5953 und 5954 besteht, war völlig problemlos als helles Knäuel zu erkennen, aber das war nicht das Einzige, was mich da im Okular anlachte. 15‘ südwestlich davon schälte sich eine Lichtnadel heraus; zwar nicht brüllend hell, aber dennoch auffällig. Problem: Die war nicht im Atlas verzeichnet. Ich rief Norman herbei, der die Sichtung bestätigte und ebenfalls ganz begeistert war ob des Fundes. Was für eine spannende Überraschung! Leider vereitelten einmarschierende Zirren eine weitere sinnvolle Beobachtung; die Position von der „neuen“ Galaxie NGC 5951 musste ich aus dem Gedächtnis einzeichnen.

Schätzungsweise 60% des gesamten Firmaments waren mit irgendeinem dünnen Geschmiere verseucht, und nachdem das Teleskop in den sicheren Parkmodus versetzt wurde, gingen wir gegen 03:00 Uhr in die Küche für eine Rast. Versorgung mit Keksen, Orangen, und einem Wackelpudding. Es war normalerweise mucksmäuschenstill im Raum; daher fiel es umso stärker auf, dass der Wind draußen gegens Haus donnerte. Bis 03:40 Uhr verweilten wir und kehrten dann ins Freie zurück.


Viel hatte sich nicht geändert, doch man konnte die Bedingungen schon halbwegs brauchen. Das Seeing war ja gar nicht sooo übel. Norman hatte aus unerfindlichen Gründen M 13 eingestellt, der mich irgendwie kalt ließ, und von dort aus ging die Reise in die Leier zum nächsten spannenden „Experiment“…


M 57! Was geht da, bei brauchbarem Seeing? Wir wollten es wissen. Noch stand die Leier so hoch über dem Dach, dass ich halbwegs flach und gemütlich auf dem Boden stehen konnte, doch mit zunehmender Höhe verringerte sich mein Bodenkontakt immer weiter nur auf die Zehenspitzen, weil ich mich bis zum OAZ strecken musste. Wadentraining pur, aber ich war völlig vertieft in den Ringnebel, auf der Suche nach dem Zentralstern. Im 8er Ethos spielte ich bei 200facher Vergrößerung mit der richtigen Blickposition herum, wechselte die Blickrichtung (auch mal rechts vom Objekt, statt, wie sonst, links), schloss kurzzeitig das Auge zur Entspannung und achtete aufmerksam, ob und was sich auf der großen, dunklen Fläche tat. Sie blieb die meiste Zeit leer, doch für einen Sekundenbruchteil blitzte plötzlich ein schwaches Sternchen heraus, und mir blieb fast das Herz stehen. „DAAAA!“, rief ich. „Ganz kurz war er da!“ Das wollte natürlich noch verifiziert werden, und ich hielt M 57 weiter im Blick, und versuchte gleichzeitig, 20 Minuten lang irgendwie die Balance zu halten. Für den Zementklotz-Tritt war ich zu stolz und arrogant. Keine Gnade für die Wade. Über kurz oder lang blinkte der Zentralstern mehrfach heraus, aber niemals konstant haltbar; die längste Phase, nach einem Wechsel aufs 4,7er Ethos, dauerte eine knappe Sekunde. „Jetzt hat er verloren, hahaha…“, frohlockte ich aufgeregt. Das macht Mordsgaudi!


[Norman]: Ich sah praktisch nix, das indirekte Vermuten gelang mir hier auf dem Wendelstein schon mit besseren Resultaten; heute blinkte er für mich praktisch gar nicht auf. Während er M 57 untersuchte, ging ich oben auf der Wiese umher, wo vergleichsweise ein Sturm tobte. „Jetzt mehren sich die Windböen“, stellte Norman unten fest. Wir überlegten, ob es wohl zu kühn wäre, sich an der prominenten kleinen Nachbargalaxie zu versuchen; zumindest bräuchte man Kenntnis über die exakte Position. Ich erklärte mich bereit, meine wertvolle Dunkeladaption zu verheizen, um drinnen mithilfe des Netbooks eine Detailkarte zu erstellen. Währenddessen schaute sich Norman etwas „Frevelhaftes“ an – M 27.

Ich kehrte mit dem Lageplan zurück, sah den Hantelnebel und stellte fest, dass die Wolkensuppe mittlerweile abgezogen war und einen 1 A Himmel hinterlassen hatte. Super! Die Geschichte nahm immer mehr an Fahrt auf. Die sportliche Nacht der Herausforderungen, das fetzt. Wir beide widmeten uns lange der kleinen M-57-Nachbarin IC 1296 und beschrieben unsere Eindrücke. Ich glaubte, neben dem hellsten Mitglied einer schwachen, ringförmigen Sternkette westlich des PN eine grenzwertige Wolke zu erahnen, doch zu 70% war ich mir unsicher. Könnte auch ‘ne Täuschung durch den Feldstern sein. Dass Norman diesen Eindruck jedoch bestätigte (mit ähnlichem Unsicherheitsfaktor behaftet), ließ mich aufhorchen. Wir zeichneten in die Karte die Position ein, die wir beide vermuteten – und hinterher stellt sich heraus: Wir lagen richtig, jippieee!! IC 1296 erwischt!


Die Zeit war schon recht weit fortgeschritten, 04:45 Uhr, und die Windböen nahmen weiter an Kraft zu. „Der Himmel nähert sich schon wieder dem 5-Uhr-Anblick“, stellte Norman fest, als wir eine kurze Zäsur einlegten. Zeit, das SQM zu fragen, das durchschnittlich 21,7 mag/arcsec² ausgab. Nicht schlecht, Herr Specht. Während Norman noch mit IC 1296 zugange war, saß ich träge auf der Bank am Terrassentisch, lauschte den rauschenden Kiefern rings umher, beobachtete die hellen Meteore, wünschte mir was Schönes, sah einen Iridium Flare im Schwan und stellte fest, wie ungewohnt tief die Cassiopeia hier rumhing. Ich war zufrieden mit Gott und der Welt.


„Kannst ja schonmal das Nächste raussuchen“, schlug Norman vor, woraufhin ich im Atlas blätterte und versuchte, die interessantesten, exotischsten Haufen zu ignorieren, die mich auf jeder Seite anlachten. Einen konnte ich trotzdem anpeilen, Leiter 4, machte mir jedoch keine Notizen darüber. War also nicht der ausgesprochene Oberkracher. Er befindet sich ein kleines Stück nordöstlich von M 71, der uns anschließend vor den Spiegel rutschte. „Entenfuß“, titelte Norman, der daraufhin durch die Seiten blätterte und mir den Asterismus Lorenzin 5 einstellte. „‘Essertoo String‘. Wenn der so einen Namen hat, muss man sich den doch anschauen!“ Er bewies Talent im Aufsuchen solcher Kuriositäten und fand sogar einen positiven Kommentar: „Niedlich!“ Lorenzin 5 zeigte sich als eine auffällige Sternkette, wenn auch aus eher schwächeren Mitgliedern – die musste ich einfach zeichnen, zumal sie extra für mich ausgewählt war.

Eigentlich wollten wir ja ein bisschen Sightseeing in der Schildwolke veranstalten, aber eine interessante Haufenregion fiel mir im Atlas ins Auge und ich bat um Teleskopzeit, die mir genehmigt wurde. Freie Bahn! Zunächst eine Visite bei NGC 6639, nördlich von Gamma Scuti, der mich nicht unbedingt vom Hocker riss. Eher lose und versprengt; keine beeindruckende Wirkung in dem sternreichen Umfeld. Da wollte ich aber auch gar nicht hin. Ein weiteres Grad in nördlicher Richtung steht ein hellerer Feldstern, von welchem aus ein „Drittelkreis“, bestehend aus 4 Sternhaufen, nach Süden zeigte. Interessanter Anblick im Teleskop, am besten in Übersichtsvergrößerung. Der östlichste Bursche, Ruprecht 143, war recht kompakt und viereckig wirkend. Der östliche Nachbar hieß Ruprecht 142, der der größte der vier Haufen war, mit etwa 20 Mitgliedern unterschiedlicher Helligkeiten. Das hellste von ihnen stand an der Spitze der von ihnen geformten Raute. Daneben präsentierte sich Ruprecht 141 mit mehreren hellen Sternen, angeordnet in einem größeren Ring vor nebligem Hintergrund. Nicht ganz aufzulösen. Der westlichste der Kollegen, der den Drittelkreis abschloss, war Dias 6. Recht unscheinbar, doch mit einem dominanten Mitglied. Es verblieb ein nebliger, länglicher Schleier.


Ich hoppte mich weiter durch die Sternhaufen, die dort in der Nähe rumlungerten. NGC 6631 steht bei B 95, einer „Mords Staubwolke!“ Hübsch auch NGC 6604, wenn auch recht unscheinbar wegen „explodiert“ wirkender Sternketten in reichem Umfeld. Das hellste, dominanteste Mitglied stand direkt im Zentrum und war umgeben von einem großen Ring. Kein Problem, die Gruppe aufzulösen. Von dort schwenkte ich etwa 1° in den Süden, weil mich die Haufen-Kombo Isserstedt 690 und Trümpler 32 anlockte, direkt nördlich vom Adlernebel M 16.


Doch zum großen Beschreiben kam ich nicht, weil Norman auch durchs Okular schauen wollte und sich vielmehr für M 16 interessierte. Die verbliebene Zeit bis zur einsetzenden Dämmerung – es war bereits nach 06:00 Uhr – nutzten wir für die Beobachtung dieses herrlichen Gasnebels. Norman beschrieb, wie er die Säulen wahrnahm, was wir später mit einem Foto abglichen. [Norman]: Ich hatte kein Bild im Kopf bei der Beobachtung. Ich nahm eine große dunkle Partie innerhalb des Nebels war, welcher sich zwei- bis dreistufig darstellte. In Relation zu einem hellen Sternduo im Nebel und dem Sternhaufen war die kleine „Treppe“ richtig orientiert wie der Blick auf ein Bild zeigte. Offenbar hatte ich tatsächlich die „Säulen der Schöpfung“ gesehen - toll! Auf Sternchen an deren Enden hatte ich nicht geachtet. Eine akribische Beobachtung war das nicht, da eh die Dämmerung nahte… Ja und das Bild welches zum Vergleich herhielt, entstammt der Titelseite eines Buches einer umfangreichen Astro-Bibliothek, welche Anne in den Tiefen der Finca entdeckt hatte, ein Sammelsurium teils hochwertiger Literatur in verschiedenen Sprachen… (Die Entdeckung äußerte sich in einem witzigen fincadurchdringenden Schrei, der mich aus der Sonne in unser Wohnzimmer mit dem dunklen Holzboden lockte). Eine Astrobiblio in unserer Finca - wow!

Gegen Viertel Sieben stellten wir „plötzlich“ fest, dass der Himmel hell wurde. Komischerweise hatte kein Hahn gekräht und angekündigt, dass der Tag bald anbrechen sollte. Norman beendete, eine Viertelstunde später, seine M-16-Observierung mit den Worten: „Das 8er war jetzt nicht so der Hit.“ Die Nacht war vorbei. Und die war zum Schluss ja richtig, richtig, richtig bombig geworden; selbst der Wind hatte in der vergangenen Stunde auf der Terrasse nachgelassen. Hochzufrieden, munter und ziemlich aufgewühlt ob der vielen eindrücklichen Anblicke, die wir uns in dieser Nacht erarbeitet – nein, erkämpft! – hatten, packten wir unser Zeug zusammen und genossen die letzten Minuten an der frischen Luft. Ein paar Minuten später, rechtzeitig bevor ich ins Bett fiel, sah ich die Venus durchs Fenster scheinen. Barfuß rannte ich die stachelige Wiese hinauf, um zumindest davon noch ein Foto zu machen.


[Norman:] Die Luft roch übrigens meist etwas süßlich, es lagen Pollen in der Luft. Diese setzten sich auch bald überall ab. Nicht der einzige Grund, das Teleskop nicht draußen stehen zu lassen. Eines „Morgens“ auf der sonnigen Terasse kam ich gerade rechtzeitig, um das Abfackeln von meinem dobson zu verhindern. Ich ging gerade dran vorbei als ich dunklen Rauch beim Hut aufsteigen sah… obwohl es halb im Schatten stand! Irgendwie hat sich die hochstehende Sonne reingemogelt und am Hut herumgekokelt - keine Ahnung, wie das passieren konnte. So dejustiert war der HS eigentlich nicht ;-) Seeehhhhr eigenartig…

 

 

Ein Beobachtungsbericht von Norman Görlitz und AKE

Magdeburg, Mai 2014

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